14.

Die nächsten drei Tage verbrachte ich in begeisterter Aufregung. Pykes Pläne waren ebenso problematisch wie faszinierend, aber sie ließen mich den schrecklichen Vorfall in Kilmun vergessen. Ich schrieb Sir Peter einen Brief, in dem ich ihm meine Entscheidung mitteilte. Wie ich dazu gekommen war, erklärte ich nicht allzu genau, aber ich vergaß nicht, ihm für all seine Unterstützung bei meiner bisherigen Karriere zu danken. Endlich hatte ich einen eindeutigen Weg vor mir, dachte ich, als ich den Brief abschickte. Ich hatte das Gefühl, einen Punkt erreicht zu haben, den Meteorologen Okklusion nennen: einen Moment - einen Ort -, wo Warm- und Kaltfront aufeinandertreffen.

Ich hatte meine Entscheidung gefällt. Ich war mir sicher - wie jung und dumm ich damals doch war -, dass die Selbstverachtung langsam vergehen würde, die ich seit Rymans Tod spürte.

Als ich Pykes Eis Sir Peters Feuer vorzog, hätte es vielleicht so aussehen können, als ob ich mich in die gefährlichere Richtung bewegte, aber mir kam es damals nicht so vor. Denn auch wenn Pykes Plan, Schiffe aus Eis zu bauen, trotz Mountbattens Unterstützung hochriskant schien, wirkte er für mich sicherer als die Mitarbeit bei der Vorhersagetruppe für die Invasion. Denn alles, was ich in Rymans Nähe erfahren hatte, schien die wilde Unberechenbarkeit des Wetters zu bestätigen. Und ich wollte keine Menschen in den Tod schicken.

Da meine Wohnung in Richmond nicht zur Verfügung stand - ich hatte sie während meines Aufenthalts in Schottland untervermietet -, nahm ich mir ein Zimmer in einer Pension am Claremont Square, in Gehweite von Smithfield.

Es war ein schönes Haus, das an Bloomsbury erinnerte, nur leider im hässlichen Pentonville stand, wo ich fieberhaft bis tief in die Nacht hinein schrieb, wie ein Schlot rauchte und bei dem Versuch, die vielen fluiddynamischen Probleme der Habbakuk zu lösen, ein Blatt nach dem anderen mit krakeliger blauer Schrift füllte - wie ich es heute auf diesem Eisschiff mit Kurs in Richtung Wüste tue.

Die Probleme, die ich für Pyke bearbeiten sollte, hatten mit dem Tiefgang des Schiffs zu tun, lösen konnte ich sie allerdings erst, als ich sie ein zweites Mal bei der Vorbereitung dieser Reise anging. Damals war ich überwältigt vom Ehrgeiz der Unternehmung. Ein Schiff von sechshundert Metern Länge, dreißig Metern Breite und mit einem zehn Meter dicken Rumpf. Unsere Konstruktion in der Antarktis war viel kleiner, doch viele der anderen Eigenschaften waren gleich geblieben. Seitlich befestigte Motorgondeln; 1000-PS-Elektromotoren mit Schiffsschraube; Generatorturbinen im Rumpf, von Kastenträgern geschützt; ein ausgeklügeltes Kühlsystem mit Rohren, die durch das Eis verlaufen; Tanks für das Öl, das die Turbinen antrieb, die den Strom für die Motoren und die restliche Maschinerie herstellten ...

Ich schrieb mir alle Fragen auf einen Merkzettel, den ich mir gefaltet in die Jackentasche steckte, und machte mich am nächsten Morgen auf den Weg zu Pykes Werkstatt.

Es war ein Vergnügen, nach dieser Zurückgezogenheit hinaus in die grüne Frische der Amwell Street zu treten. Ich kaufte mir im örtlichen Laden einen halben Liter Milch und trank direkt aus der Flasche. Ich genoss die Kälte in meinem Hals.

Dann dachte ich an Rymans Milchflasche und alles, was danach geschehen war, und mir wurde übel. Ich hatte wieder seine dürre Hand vor Augen, die die Milch in den Bach goss.

Als ich von der Roseberry Avenue in den Exmouth Market ging, veränderte sich die Atmosphäre der Stadt. Das süße Licht der Amwell Street wurde rauchiger und beißender, als wäre die giftige Druckerschwärze aller Druckereien der Fleet Street und Bouverie Street mit dem Wind nach Norden gezogen, um hier die Luft zu verpesten.

Ich setzte meinen Weg zu dem Kühlhaus in den Tiefen von Smithfield fort. An der Bowling Green Lane stieg ich eine Treppe hinab und ging dann wieder ein Stück bergauf an einem Pub namens Three Kings vorbei und hinab zum Clerkenwell Green. Als ich unter dem St John's Gate hindurchging - ein mittelalterliches Gebäude mit Steinfassade, das auf die Tempelritter oder Malteser oder Ähnliche zurückgeht -, hatte ich das Gefühl, mich gleichzeitig in völlig verschiedenen Zeiten zu befinden. Wie seltsam, dass hier einst die streitbaren Ritter des Christentums verweilten, das Flammenschwert immer griffbereit! Und hier war ich, 1944, auf meinem Weg zu einem Treffen für einen Plan, der den Verlauf des Krieges mit Eisschiffen verändern konnte.

Nachdem ich wie zuvor die Halle der Schlachter durchquert hatte, klingelte ich bei Morgan's. Ich hatte die Hand kaum gesenkt, da erschien von drinnen auch schon ein ziemlich grimmig dreinblickender Soldat. Er trug eine normale Uniform der Army, kastanienbraune Stiefel und einen Offiziersgürtel. Er ließ mich nicht gleich herein, sondern blieb in der halboffenen Tür stehen und musterte mich misstrauisch.

»Ja?«, fragte er. Er hatte einen sandfarbenen Schnurrbart und sehr kurz geschnittene Haare.

Ich stellte mich vor und erklärte, dass Pyke mich für ein Projekt angeheuert habe, über das ich nicht reden dürfe.

»Für welches?«, fragte er vorsichtig. »Kommen Sie lieber herein.«

»Dieses hier«, antwortete ich, als ich drinnen war. Plötzlich fiel mir auf, dass das Kühlhaus gar nicht mehr so kühl war.

»Verdammter Schwachkopf«, fluchte der Offizier. »Das hätte er nicht tun dürfen. Pyke wurde die Genehmigung für das Projekt entzogen. Es ist vorbei. Der macht uns sowieso viel zu viele Probleme. Der Standort wird geschlossen, und hier kommt keiner mehr rein, wenn ich es nicht will.«

Ich konnte sehen, wie hinter ihm im Vorraum einer der Kommandosoldaten die Schutzanzüge in Kisten räumte.

»Aber er hat gesagt, dass ich an seinem Projekt mitarbeiten soll«, beschwerte ich mich.

»Und ich sagen Ihnen, dass daraus nichts wird.«

»Wer hat das angeordnet?«

»Lord Mountbatten. Nicht, dass Sie das etwas anginge, Meadows, aber ich bin Brigadegeneral Wildman-Lushington, und ich behalte Pykes Auswüchse für Lord Louis im Auge. Pyke hat auch so noch genug Projekte laufen. Habbakuk wurde abgebrochen, und er hat den Auftrag, sich auf ein anderes zu konzentrieren.«

Er sah mich misstrauisch an. »Bei welcher Teilstreitkraft sind Sie eigentlich?«

»Ich arbeite für das Met Office«, erklärte ich. »Ich bin Wetterbeobachter mit besonderen Kenntnissen der Turbulenz. Deshalb sollte ich für Pyke arbeiten.«

Ich erkannte an seinem Blick, dass ein richtiger Mann zu Kriegszeiten seiner Meinung nach deutlich mehr zu leisten hätte.

»Tatsächlich?«, sagte er schließlich. »Na, dann gehen Sie lieber mal wieder Wetter beobachten, was? Und kommen Sie nicht mehr hierher!«

Er schubste mich quasi durch die Tür. Ich blieb eine Weile stehen und machte mich dann wieder auf den trostlosen Weg zwischen den Schlachtern und Schnitzeln hindurch, über das Clerkenwell Green und dann in Richtung meiner Pension mit einem Zwischenstopp auf ein Bier im Three Kings. Voller Abscheu auf die Welt - nicht nur auf die Unberechenbarkeit des Wetters, sondern auf die aller Ereignisse und des ganzen Lebens - betrachtete ich wieder einmal mein Leben durch den Boden meines Bierglases.

Es wurden dann doch einige Biere, bevor ich am frühen Nachmittag nach Hause Richtung Bett taumelte. Als ich die Treppe hinaufstieg, was große Konzentration erforderte, warf mir die alte Schachtel, die die Pension führte, einen bösen Blick zu. Wie seltsam es ist, dass ich mich an diese Dinge erinnere, während ich die Weinernte-Fuge aus den Jahreszeiten höre. Ich hatte allerdings nichts geerntet.

An dem Tag verließ Pyke mein Leben, und so auch Habbakuk - wenigstens bis die Mitarbeiter des Scheichs sich bei mir meldeten. Pyke selbst beging 1948 mit Schlaftabletten Selbstmord, niedergeschlagen, dass seine Nachkriegsideen keine Interessenten fanden. Er war wirklich ein beeindruckender Mann, über den ich viele Dinge noch nicht wusste, als ich ihn damals im Krieg kennenlernte. Ich hatte zum Beispiel noch nicht davon gehört, dass er im Ersten Weltkrieg aus einem Gefangenenlager ausgebrochen war, nachdem er eine Statistik der fehlgeschlagenen Fluchtversuche der anderen aufgestellt hatte. Genauso wenig wusste ich, dass er einmal ein Vermögen auf dem Metallmarkt verdient (und wieder verloren) hatte und zeitweise Optionen auf ein Drittel des gesamten Zinns der Erde hielt. Oder dass er eine Schule nach den revolutionären Bildungsprinzipien des Philosophen John Dewey aufgebaut hatte. Oder dass er eine Zeitlang in einer geschlossenen Anstalt in den Vereinigten Staaten einsaß, weil die Amerikaner ihn als Sicherheitsrisiko einstuften.

So viele Unbekannten in einem Leben. Einem Lebenslauf werden meistens ein Anfang, eine Mitte und ein Ende zugeordnet, doch was ist mit den Abschnitten dazwischen? Was wird aus all den Augenblicken, die niemand aufschreibt und die nicht in die Geschichte eingehen? Wenn man die alle zusammenträgt, sie aus jedem Menschenleben der Zeitgeschichte herausnimmt - ganz zu schweigen von den anderen Arten von Leben -, dann schafft man einen gewaltigen Druck gegenüber der Zukunft, Millionen von Pascal, die nur darauf warten, in Form des Unerwarteten über uns hereinzubrechen, uns zu vertreiben, zu unterwerfen und zu stürzen.

 

DATUM: 1. Februar 1980

Position um 06.00 Ortszeit (GMT +2):

33° 54' südliche Breite, 18° 25' östliche Länge

Kapstadt, Duncan Dock, Liegeplatz E

Leinen los Bouvet Island: 23. Januar

NÄCHSTER ZlELORT: Daressalam, Tansania

ETA: 15. Februar

Verbleibende Distanz: 2248 sm

Aktuelles Wetter: Sonnig und warm See: Ruhig

Wind: 5 kt Südost

Luftdruck: 1012,7 mb

Lufttemperatur: 23 °C

Wassertemperatur: 19 °C

 

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